Was bleibt vom Lesen in Zeiten der KI? Und was bleibt vom Schreiben? Gedanken einer Leserin, Schreiberin und Schreibtrainerin.

Ich lese gern. Ich habe das immer schon gern getan. Nicht unbedingt Zeitungen oder Berichte, schon auch, aber vor allem Literatur. Ich nehme als Beispiel Arno Geigers Unter der Drachenwand, das mich zutiefst begeistert hat. Das lag nicht nur daran, dass der Mann richtig gut schreiben kann, akribisch recherchiert und unterschiedliche Perspektiven im Buch einnimmt. Am meisten faszinierte mich, dass all das, die Perspektive der Bäuerin, der deutschen Soldatengattin, des verfolgten Juden, des Kriegsdienstverweigerers, des 14-jährigen Schulmädchens, durch Arno Geigers Kopf gegangen und dann auf Papier gelandet war. Er hatte all das entworfen, durchgedacht, letztlich geschrieben. Und die Schlussfolgerungen dahinter: so fein, so klug, so tief. Ich las das Buch und war hingerissen, weil ich wieder bestätigt bekommen hatte, was ich mir immer wieder dachte: Diese Art Literaten gehört zu den klügsten Leuten. Sie denken Dinge bis zuletzt durch. Sie lassen mich in ihren Kopf einsteigen, wenn ich lese. Besonders stark hatte ich diesen Eindruck bei Karl Ove Knausgaard. Ich verbrachte Monate in seinem Kopf. Ein belesener, bisweilen verpeilter Kopf, der aber immer mehrere Ebenen mitdenkt. Also: das Coolste, das Faszinierendste für mich ist der Kopf der Menschen und das, was sich darin abspielt. Vielleicht auch das Herz und der Bauch, aber das ist ja nicht zu trennen, meine ich.
Ich schreibe gerne. Zumindest habe ich es bisher gern getan. Ich liebe Wörter, sie machen die Welt fassbar, begreifbar. Was man benennen kann, lässt sich verstehen. Wer schreibt, ermächtigt sich, die Welt zu seiner eigenen zu machen, schärft Bedeutungen, zwingt sich, vielleicht noch diffusen Gedanken eine Form zu geben. Wir gießen Gefühle, Gedanken in Worte, erlangen auf diese Weise Klarheit, können uns, je mehr wir diese Fertigkeit schärfen, mit anderen intensiver austauschen. Je größer unser Wortschatz, desto größer unsere Welt. Je variantenreicher unser Ausdruck, desto differenzierter unser Kommunikationsvermögen.
Mit dem Lernen einer neuen Sprache schaffen wir uns eine neue Welt. Ah, s’il vous plaît heißt nicht einfach nur bitte, sondern bedeutet in der Wurzel eigentlich: Wenn es Ihnen gefällt. Interessant, eine andere Nuance. Ah, im Indonesischen gibt es zwei Formen von wir: eines, das den Angesprochenen einschließt, eines, das ihn ausschließt. Andere Denkweise. Andere Realität. Andere Welt. Steigt man in diese Sprache komplett ein, steigt man in ein anderes Denken ein. Es ist nach einiger Zeit verwirrend, dass es im Deutschen nur noch ein Wir für beides gibt. Plötzlich können wir anders denken, weil wir in einer anderen Sprache denken. Sprache ist denken. Schreiben ist denken. Sprache ist Welt. Schreiben ist Welt. Jeder Mensch hat eine eigene Sprache. Jeder Mensch hat eine eigene Welt. Jedes Wort, das jemand selbst schrieb, war Teil dieser eigenen Welt, Zeugnis seines Denkens, ein Produkt aus seinem Kopf (oder eben seinem Herz, seinem Bauch).
Das war bis jetzt so. Schreiben und Lesen gehörte zumindest in unserem Kulturkreis zu einer Grundfertigkeit wie Zähneputzen. Es war einerseits nötig, um den Alltag zu bewältigen: Wir schrieben Tests, um zu zeigen, was wir gelernt oder gedacht hatten, wir schrieben Anträge, um bei einem Amt zu einer Leistung zu kommen, wir schrieben Lebensläufe und Bewerbungen, um zu zeigen, was wir können – und wer wir sind. Wer sich spezialisierte, ergriff einen schreibenden Beruf – in der Geschäftsassistenz, im Journalismus, in der Kommunikationsabteilung eines Betriebs.
𝐔𝐧𝐝 𝐩𝐥ö𝐭𝐳𝐥𝐢𝐜𝐡 𝐢𝐬𝐭 𝐚𝐥𝐥𝐞𝐬 𝐚𝐧𝐝𝐞𝐫𝐬
Jetzt kommt die KI ins Spiel. Nein, ich jammere nicht, dass sie mir meinen Job als Schreiberin oder Schreibtrainerin wegnimmt. Ich weine, weil sie mir meinen Kopf wegnimmt. Meinen Kopf, auf den ich so stolz war. Ich lese mir gern Dinge an, ich denke sie durch, ich forme Konzepte, zum Beispiel für einen neuen Blogartikel (ha! Da ist es ja doch wieder, das Schreiben) oder für ein neues Seminar. Ich habe eine These und eine Idee. Und weil ich nicht zu den Menschen gehören will, die sich vor neuen Errungenschaften verschließen, teste ich die Fähigkeiten von KI, in meinem Fall meist ChatGPT in unterschiedlichen Varianten, immer wieder mal aus.
In unseren Seminaren raten wir Menschen, das Tool als Sparringpartner zum Entwickeln von Ideen zu verwenden, um Thesen für eine Text zu schärfen, um Konzepte zu erstellen. Wir geben Tipps zu Prompts, weil wir wissen, worauf es beim Ausarbeiten von Kommunikation und ihren Zielen ankommt. Und die KI liefert fabelhafte Ergebnisse. Fast immer. Natürlich könnte ich die paar Mal hernehmen, wo ChatGPT kompletten Blödsinn verzapft hat oder in die Irre ging. Ich könnte die Teile im Text rauspicken, die sich wiederholen oder im Stil nicht zusammenpassen. Das sind Details. Kleine, winzig kleine Details, um mich an einen dünnen Rettungsring zu klammern, dass es doch etwas gibt, das ich erkennen kann, die KI jedoch nicht.
Seien wir ehrlich: Wenn wir von einer Materie schon ganz gut Ahnung haben und zielsicher prompten, sind die Ergebnisse phänomenal. Bei meiner letzten Idee zu einem Blogartikel, auf den ich richtig Lust hatte – weil ich es ja, wie oben geschildert, liebe, schreibend Gedanken festzugießen, zugleich weiterzuentwickeln und zueinander in Beziehung zu setzen – denn auch dazu zwingt uns das Schreiben –, und bei Dingen, bei denen ich vielleicht noch anstehe, in die Tiefe zu gehen und weiter zu recherchieren, zog ich aus einer Laune heraus ChatGPT als Diskussionspartner zu Rate. Ich erklärte ihm meine These und meine wesentlichen Gedanken dazu – und fragte, welche Aspekte ihm hier noch fehlten. Was erhielt ich als Antwort? Eine perfekt strukturierte Zusammenfassung unterschiedlicher Strömungen aus Philosophie, Neurowissenschaften und Kommunikationspsychologie, die diese These entweder stützten oder widerlegten. Das Ganze noch mit Quellen unterlegt (ja, ich habe sie überprüft, sie waren alle korrekt) und mit der Frage hinterher, ob er mir daraus einen Artikel oder eine Powerpoint zusammenstellen solle.