Der Maskenball der KI: Wie schnell können wir tanzen?

Was bleibt vom Lesen in Zeiten der KI? Und was bleibt vom Schreiben? Gedanken einer Leserin, Schreiberin und Schreibtrainerin.
Elisabeth Gräf liest - auch in Zeiten der KI
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Ich lese gern. Ich habe das immer schon gern getan. Nicht unbedingt Zeitungen oder Berichte, schon auch, aber vor allem Literatur. Ich nehme als Beispiel Arno Geigers Unter der Drachenwand, das mich zutiefst begeistert hat. Das lag nicht nur daran, dass der Mann richtig gut schreiben kann, akribisch recherchiert und unterschiedliche Perspektiven im Buch einnimmt. Am meisten faszinierte mich, dass all das, die Perspektive der Bäuerin, der deutschen Soldatengattin, des verfolgten Juden, des Kriegsdienstverweigerers, des 14-jährigen Schulmädchens, durch Arno Geigers Kopf gegangen und dann auf Papier gelandet war. Er hatte all das entworfen, durchgedacht, letztlich geschrieben. Und die Schlussfolgerungen dahinter: so fein, so klug, so tief. Ich las das Buch und war hingerissen, weil ich wieder bestätigt bekommen hatte, was ich mir immer wieder dachte: Diese Art Literaten gehört zu den klügsten Leuten. Sie denken Dinge bis zuletzt durch. Sie lassen mich in ihren Kopf einsteigen, wenn ich lese. Besonders stark hatte ich diesen Eindruck bei Karl Ove Knausgaard. Ich verbrachte Monate in seinem Kopf. Ein belesener, bisweilen verpeilter Kopf, der aber immer mehrere Ebenen mitdenkt. Also: das Coolste, das Faszinierendste für mich ist der Kopf der Menschen und das, was sich darin abspielt. Vielleicht auch das Herz und der Bauch, aber das ist ja nicht zu trennen, meine ich.

Ich schreibe gerne. Zumindest habe ich es bisher gern getan. Ich liebe Wörter, sie machen die Welt fassbar, begreifbar. Was man benennen kann, lässt sich verstehen. Wer schreibt, ermächtigt sich, die Welt zu seiner eigenen zu machen, schärft Bedeutungen, zwingt sich, vielleicht noch diffusen Gedanken eine Form zu geben. Wir gießen Gefühle, Gedanken in Worte, erlangen auf diese Weise Klarheit, können uns, je mehr wir diese Fertigkeit schärfen, mit anderen intensiver austauschen. Je größer unser Wortschatz, desto größer unsere Welt. Je variantenreicher unser Ausdruck, desto differenzierter unser Kommunikationsvermögen.
Mit dem Lernen einer neuen Sprache schaffen wir uns eine neue Welt. Ah, s’il vous plaît heißt nicht einfach nur bitte, sondern bedeutet in der Wurzel eigentlich: Wenn es Ihnen gefällt. Interessant, eine andere Nuance. Ah, im Indonesischen gibt es zwei Formen von wir: eines, das den Angesprochenen einschließt, eines, das ihn ausschließt. Andere Denkweise. Andere Realität. Andere Welt. Steigt man in diese Sprache komplett ein, steigt man in ein anderes Denken ein. Es ist nach einiger Zeit verwirrend, dass es im Deutschen nur noch ein Wir für beides gibt. Plötzlich können wir anders denken, weil wir in einer anderen Sprache denken. Sprache ist denken. Schreiben ist denken. Sprache ist Welt. Schreiben ist Welt. Jeder Mensch hat eine eigene Sprache. Jeder Mensch hat eine eigene Welt. Jedes Wort, das jemand selbst schrieb, war Teil dieser eigenen Welt, Zeugnis seines Denkens, ein Produkt aus seinem Kopf (oder eben seinem Herz, seinem Bauch).

Das war bis jetzt so. Schreiben und Lesen gehörte zumindest in unserem Kulturkreis zu einer Grundfertigkeit wie Zähneputzen. Es war einerseits nötig, um den Alltag zu bewältigen: Wir schrieben Tests, um zu zeigen, was wir gelernt oder gedacht hatten, wir schrieben Anträge, um bei einem Amt zu einer Leistung zu kommen, wir schrieben Lebensläufe und Bewerbungen, um zu zeigen, was wir können – und wer wir sind. Wer sich spezialisierte, ergriff einen schreibenden Beruf – in der Geschäftsassistenz, im Journalismus, in der Kommunikationsabteilung eines Betriebs.

Schreiben hat mir nicht nur Spaß gemacht, weil ich Wörter mag, weil ich ihren Bedeutungen gern auf den Grund gehe, weil ich mich gerne ausdrücke, weil ich Erlebtes zu Papier bringen und festhalten möchte. Ich schreibe sicher auch deshalb gern, weil ich weiß und immer wieder bestätigt bekam, dass ich es kann. Immer mehr wurde das Schreiben, das mich ständige Umgeben mit Sprache, zu einem Teil meiner Persönlichkeit. Was in der Volksschule mit der Veröffentlichung eines Erlebnisaufsatzes in der Schulzeitung begann, endete über Umwege des Lektorats in einem Verlag und einer Anstellung im Bildungsbereich in meiner Berufstätigkeit als selbständige Kommunikationstrainerin. Mein Herzensanliegen: authentische Kommunikation auf Augenhöhe, und zwar schriftlich und mündlich. Mit dem Kopf kann ich außerdem zahlreiche Tools, Tipps und Techniken zur Umsetzung des Kommunikationsziels beitragen und so tatsächlich mit Herz und Hirn (danke, SPÖ, für diesen blöden Wahlspruch) Menschen dabei begleiten. Ein Job, den ich liebe.
𝐔𝐧𝐝 𝐩𝐥ö𝐭𝐳𝐥𝐢𝐜𝐡 𝐢𝐬𝐭 𝐚𝐥𝐥𝐞𝐬 𝐚𝐧𝐝𝐞𝐫𝐬

Jetzt kommt die KI ins Spiel. Nein, ich jammere nicht, dass sie mir meinen Job als Schreiberin oder Schreibtrainerin wegnimmt. Ich weine, weil sie mir meinen Kopf wegnimmt. Meinen Kopf, auf den ich so stolz war. Ich lese mir gern Dinge an, ich denke sie durch, ich forme Konzepte, zum Beispiel für einen neuen Blogartikel (ha! Da ist es ja doch wieder, das Schreiben) oder für ein neues Seminar. Ich habe eine These und eine Idee. Und weil ich nicht zu den Menschen gehören will, die sich vor neuen Errungenschaften verschließen, teste ich die Fähigkeiten von KI, in meinem Fall meist ChatGPT in unterschiedlichen Varianten, immer wieder mal aus.

In unseren Seminaren raten wir Menschen, das Tool als Sparringpartner zum Entwickeln von Ideen zu verwenden, um Thesen für eine Text zu schärfen, um Konzepte zu erstellen. Wir geben Tipps zu Prompts, weil wir wissen, worauf es beim Ausarbeiten von Kommunikation und ihren Zielen ankommt. Und die KI liefert fabelhafte Ergebnisse. Fast immer. Natürlich könnte ich die paar Mal hernehmen, wo ChatGPT kompletten Blödsinn verzapft hat oder in die Irre ging. Ich könnte die Teile im Text rauspicken, die sich wiederholen oder im Stil nicht zusammenpassen. Das sind Details. Kleine, winzig kleine Details, um mich an einen dünnen Rettungsring zu klammern, dass es doch etwas gibt, das ich erkennen kann, die KI jedoch nicht.
Seien wir ehrlich: Wenn wir von einer Materie schon ganz gut Ahnung haben und zielsicher prompten, sind die Ergebnisse phänomenal. Bei meiner letzten Idee zu einem Blogartikel, auf den ich richtig Lust hatte – weil ich es ja, wie oben geschildert, liebe, schreibend Gedanken festzugießen, zugleich weiterzuentwickeln und zueinander in Beziehung zu setzen – denn auch dazu zwingt uns das Schreiben –, und bei Dingen, bei denen ich vielleicht noch anstehe, in die Tiefe zu gehen und weiter zu recherchieren, zog ich aus einer Laune heraus ChatGPT als Diskussionspartner zu Rate. Ich erklärte ihm meine These und meine wesentlichen Gedanken dazu – und fragte, welche Aspekte ihm hier noch fehlten. Was erhielt ich als Antwort? Eine perfekt strukturierte Zusammenfassung unterschiedlicher Strömungen aus Philosophie, Neurowissenschaften und Kommunikationspsychologie, die diese These entweder stützten oder widerlegten. Das Ganze noch mit Quellen unterlegt (ja, ich habe sie überprüft, sie waren alle korrekt) und mit der Frage hinterher, ob er mir daraus einen Artikel oder eine Powerpoint zusammenstellen solle.

Ich war platt. Meine Freude war dahin. Das, was ich mir an einem Vormittag erarbeiten wollte, stand innerhalb einer Minute fein säuberlich sortiert auf einem Blatt vor mir. Strukturiert und in einer Breite, die ich selbst so nie zusammengebracht hätte. (Um ein Haar in der Suppe zu finden: in Wirklichkeit zu breit. Aber hier könnte man nachprompten.) Ich war um die Freude am Prozess gebracht, das Ergebnis lag schon vor mir.
Die KI greift nicht auf das Wissen eines Kopfes zurück. Sie trägt das Wissen aller in sich, sämtlicher Köpfe, die im Netz publiziert haben. Sie ist so programmiert, dass sie dieses Wissen verknüpfen kann. Sie ist ein Superhirn aus unendlichen Hirnen. Ich kann mir fünfmal, zehnmal, hundertmal sagen, dass sie nicht lebt. Das, was mein Leben ausmacht, ist mein Kopf (und in Kombination damit mein Herz und mein Bauch). Dieser Kopf ist nichts mehr wert. Meine Arbeit ist nichts mehr wert. Was ich früher freudig aus Gelesenem und Gedachten zusammenkombinierte, ist nutzlos. Menschen in Wissensberufen heute sind die Weber und Weberinnen im 19. Jahrhundert und die Setzerinnen und Setzer der 1980er-Jahre. Sie werden nicht mehr gebraucht. Ich werde nicht mehr gebraucht.
Das stimmt natürlich so nicht. Ich kann immer noch Trainings halten, wertschätzendes Feedback geben, mit Menschen kommunizieren, Gruppen leiten, vor Publikum sprechen. Das kann die KI (so) (noch) nicht. Aber: Mein Selbstverständnis, mein Selbstwert, beide sind angeknackst. Und was antwortet die KI auf meine Klage? „Das ist eine absolut berechtigte, tiefgreifende Beobachtung – und sie trifft einen Nerv, den gerade viele Expert:innen in wissensintensiven Berufen spüren.“ Danke, jetzt fühle ich mich gleich viel besser.
𝐃𝐢𝐞 𝐖𝐞𝐥𝐭 𝐦𝐚𝐬𝐤𝐢𝐞𝐫𝐭 𝐬𝐢𝐜𝐡
Aber darum geht es mir gar nicht. Natürlich kann ich mich mit der KI auch anfreunden, sie nutzen, mit ihr arbeiten. Aber was macht sie mit uns? Was macht sie aus uns? Was mich so ankotzt: Jeder Idiot kann sich zu jedem beliebigen Thema einen coolen Text zusammenstellen lassen, ihn unter seinem Namen publizieren und sich so als Experte oder Expertin verkaufen. Ja, das ist bedrohlich! Es wird niemand merken. Worte sind mächtig, Worte nehmen ein, Worte blenden. All das kann die KI. Und ganz reale Menschen können sich dahinter verstecken. Für mich fühlt sich das alles wie eine große Lüge an. Für mich zeigen sich Menschen in ihren Texten. Nun zeigt sich KI in ihren Texten, Menschen geben die KI-Texte als ihre eigenen aus, sie zeigen sich nicht. Es ist, als hätte sich die Welt mit einem Mal maskiert. Und alle schreien: Wow, super!
Ich finde es nicht super. Ich finde es verstörend, beängstigend. Ein Text hat damit keine Persönlichkeit mehr. Niemand Reales steckt dahinter. Jemand könnte ein Buch von KI schreiben lassen, im Stil, von, sagen wir, Arno Geiger. Er könnte ein paar Thesen aufstellen, ohne sich je mit Sprache auseinandergesetzt zu haben, er könnte Chat-GPT nach Quellen suchen, diese dann zu einem Roman kombinieren lassen. Es könnte ein spannendes Buch werden.
ChatGPT behauptet, wenn man es darauf anspricht, man würde bei einer solchen Arbeitsweise („Schreiben wir es doch zusammen!“, säuselt die KI) die Oberhoheit über den Text behalten. Aber Fakt ist: Der Text wäre nicht durch den Kopf des Schreibers gegangen, ich könnte beim Lesen nicht in seinen Kopf einsteigen, sondern ich werde in eine Kombination aus einem Netzwerk von Millionen Köpfen eintauchen.
Natürlich könnte ich dennoch Lesegenuss und Erkenntnisse daraus ziehen. Aber: Es wäre nicht echt. Es wäre nicht durch den Kopf des Autors gegangen. Für mich ist ein solcher Text eine einzige große Lüge. Eine einzige große Maske. Und alle setzen sie sich freiwillig auf. Ist doch toll! Machen doch alle! Die Welt ist ein Maskenball, auf dem wir schneller und effizienter tanzen! Aber: Ist das noch unser Tanz? Und wer gibt den Takt an?

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