Ein Plädoyer, in Zeiten der Pandemie mehr auf die verschiedenen Bedürfnisse zu hören und aufs vorschnelle Schubladisieren zu verzichten.
„Die Nachbarn haben unlängst Party gefeiert, das waren sicher zehn Leute und laut waren die! So etwas macht man doch in diesen Zeiten nicht! – Was, welche Vernissage? Ach, ja, letzte Woche. Na gut, ja, da waren auch viele, aber das ist Kultur, das muss doch sein dürfen. Und da gab es auch ein tolles Sicherheitskonzept.“
„Eine Bekannte war gerade in Kroatien, also wirklich, ist ja klar, dass die Zahlen jetzt wieder raufgehen. – Was? Das ist doch mit dem Trip nach Salzburg nicht vergleichbar! Das ist doch etwas ganz anderes, das waren doch nur zwei Tage.“
Der Ton wird gereizter, überall. Finger werden zunehmend nicht nur erhoben, sondern auf andere gerichtet – auf die, die das tun, was wir uns versagen, vor allem aber auf die, die etwas tun, was wir für unnötig erachten.
Verschiedene Bedürfnisse
Was gern übersehen wird: Wir haben verschiedene Bedürfnisse, weshalb wir ganz unterschiedlich unter den jeweiligen Maßnahmen leiden, verschieden darauf reagieren und unsere Handlungsspielräume variabel deuten.
Wer mit einer intakten Familie ein Haus mit Garten bewohnt, erlebt ein (partielles) Kontaktverbot anders als der Single in einer kleinen Stadtwohnung. Wer Brille trägt, viel schwitzt und dauernd unter fremden Menschen unterwegs ist, leidet unter der allgegenwärtigen Maske vor Mund und Nase stärker als jemand, der all diese körperlichen Nachteile nicht kennt oder die Maske nur auf dem kurzen Weg zur Arbeit aufsetzen muss.
Jede/r verteidigt das, was ihm oder ihr lieb ist. Es ist leicht, auf jene zu zeigen, die auf Partys gehen, wenn man selbst so etwas nicht (mehr) macht oder braucht. Es ist leicht, Kroatien-Urlauber zu verurteilen, wenn man selber Stammgast am Millstätter See ist, und es ist leicht, auf jene zu schimpfen, die nur schwer ihre Yoga-Stunde oder ihre Chorprobe aufgeben, wenn man selbst die Erfüllung im wohl noch länger erlaubten Lesen oder Computer-Spielen findet.
Ja, manche Maßnahmen müssen sein und je weniger Menschen die Maßnahmen einhalten, desto schlechter werden sie wirken. Gerade deshalb sollten sie von einer breiten Masse getragen werden – und für eine breite Masse tragbar sein. Was aber erträglich ist, hängt von der jeweiligen Lebenssituation ab. Wer wirtschaftlich vor dem Ruin steht, weil er/sie eine 140 Quadratmeter große Halle angemietet hat, um dort z. B. die vielzitierten Yoga-Kurse zu halten, jetzt aber trotzdem nur mit sechs Personen arbeiten darf, was nicht einmal die Mietkosten deckt, wird vielleicht weniger Verständnis für den Inhalt der Verordnung haben als jemand mit fixem Arbeitsplatz. Ist das wirklich so schwer zu verstehen?
Und wer etwa in einer Bildungsinstitution mit jungen Menschen arbeitet, ständig mit ihnen Kontakt hat und sich daher dauerhaft der Gefahr einer Ansteckung aussetzt, wird wenig Verständnis für jene haben, die nicht bereit sind, sich für zehn Minuten eine Maske überzuziehen. Deshalb muss diese Person noch keiner Pandemie-Panik verfallen sein.
Schluss mit dem Fingerzeig!
Wir wissen meist nicht, warum andere so denken und handeln, wie sie es tun. Und doch urteilen wir schnell. „Ein Feind ist jemand, dessen Geschichte wir noch nicht gehört haben“, meinte die Friedensaktivistin Gene Knudsen Hoffmann.
Es existiert nicht nur Schwarz und Weiß und ganz sicher passen sehr viele Schattierungen zwischen „Corona-Leugner“ und „Corona-Hysteriker“. Besser, wir hören einander zu als wir stellen uns gegenseitig ins Eck und verunmöglichen damit jeden Diskurs. Fragen wir nach, was dem Gegenüber wichtig ist, anstatt die Moralkeule zu schwingen. Besser wir gehen davon aus, dass auch jene, die unsere Meinung nicht teilen, legitime Bedürfnisse haben.
Leute, redet miteinander!
Hört einander zu!
Und hört auf, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen!
Roman Kellner und Elisabeth Gräf