Zuhören und die Bereitschaft, Neues zu hören

Missverständnisse vermeiden: ein Rezept für konstruktive Gespräche

Ein Gespräch eskaliert, weil beide Seiten ihre Perspektive beibehalten. Genau zuhören und nachfragen hilft, Missverständnissen auf die Schliche zu kommen.

Wer die Ente sieht und nicht bereit ist, den Blickwinkel zu verändern und auf seiner Wahrnehmung beharrt, wird nie den Hasen sehen. Eine Wahrheit wird verborgen bleiben. Schlau wäre, dem anderen zuzuhören und zu erfahren, was er oder sie sieht.Ich erinnere mich an eine Kundin, die vor einigen Jahren für ein Kommunikationscoaching bei uns war. Kerstin arbeitete in einer sozialen Institution in Niederösterreich, die Menschen im Alltag begleitet. Sie wandte sich an uns, weil sie in Gesprächen, so diese nicht im therapeutischen Kontext mit Klient*innen stattfanden, oft emotional wurde; vor allem mit Team-Kolleg*innen fiel es ihr schwer, Nerven und Ruhe zu bewahren.

Einmal schilderte sie ein typisches Beispiel: Nach einem stationären Aufenthalt wurde Kerstins Klient vom Spital ein Medikament verordnet. Als er sich dieses in der Apotheke abholen wollte, schickte man ihn fort – mit dem Hinweis, er habe kein Rezept. Der Klient wandte sich an Kerstin mit der Bitte um Hilfe, und sie griff sofort zum Hörer. Das Gespräch verlief in etwa so:

Kerstin: Sie haben meinen Klienten wieder fortgeschickt, obwohl ihm das Medikament im Spital verordnet wurde.

Apothekerin: Dafür brauche ich ein Rezept, er hatte keines.

Kerstin: Aber das Spital hat ihm doch dieses Medikament verordnet!

Apothekerin: Dafür brauche ich aber ein Rezept.

Kerstin: Ja, aber Sie haben doch ein Rezept!! Das Spital hat das doch verschrieben!

Apothekerin: Damit ich das verbuchen kann, brauche ich ein Rezept von einem Arzt.

Kerstin: Wollen Sie mir sagen, dass im Spital keine Ärzte arbeiten? Er war ja gerade im Spital beim Arzt!!! Warum geben Sie ihm das Medikament nicht?

Apothekerin: Jetzt habe ich es Ihnen schon TAUSENDMAL gesagt: Ich brauche ein REZEPT!

Kerstin: SCHREIEN SIE MICH NICHT AN!

Erst bei der Nachbearbeitung im Coaching wurde Kerstin klar, dass weder sie noch die Apothekerin einander wirklich zugehört hatten. Sie waren nicht bereit gewesen, ihre Vorannahmen in Zweifel zu ziehen, vielleicht einmal zu wiederholen, was die jeweils andere gesagt hatte oder eine konkrete, weiterführende Frage zu stellen. Für Kerstin war klar: Der Patient hat eine Verschreibung vom Spital, das kann ja nichts anderes als ein Rezept sein. Warum stellt sich die Apothekerin so an?
Für die Apothekerin war klar: Sie braucht zum Abrechnen mit der Krankenkasse ein Rezept – und die Medikamentenliste des Spitals ist kein solches.

Hinhören und nachfragen

Hätte eine von beiden genauer hingehört oder nachgefragt, wäre das Telefonat nicht in einem Streit geendet. Idealerweise hätte eine der beiden die Situation beschrieben und dann eine Frage gestellt. Damit wären sie aus ihrer eigenen Tunnel-Wahrnehmung ausgestiegen.

Im Fall von Kerstin zum Beispiel: Der Patient war gerade im Spital. Er hat einen Zettel mit Medikamenten, die er nehmen soll, erhalten. Ist das, was er hat, denn kein Rezept? Oder: Sie sagen, er braucht ein Rezept. Wo bekommt er denn ein Rezept her, wenn nicht im Krankenhaus?

Im Fall der Apothekerin: Sie sagen, das Spital hat das Medikament verschrieben. Ist das nicht vielleicht nur eine Medikamentenliste im Entlassungsbrief? Oder: Ein Rezept stellt eine niedergelassene Arztpraxis mit Kassenvertrag aus. War der Patient denn nach dem Krankenhaus schon beim Arzt? Oder mit einer Nachfrage: Sie sagen, Sie haben ein Rezept. Wie sieht Ihres denn genau aus?

So aber blieb jede in ihrer eigenen Story. Kerstin war überzeugt, der Entlassungsbrief aus dem Spital sei einem Rezept ebenbürtig. Sie fragte nicht, was denn als nächstes zu tun sei. Die Apothekerin blieb bei ihrer Formulierung, dass sie ein Rezept brauche, obwohl ihr Gegenüber ganz offensichtlich nicht wusste, was sie darunter verstand. Sie fragte nicht nach, was denn der Patient erhalten hatte, sie erklärte den Begriff nicht genauer, auch als eigentlich klar sein musste, dass sie von verschiedenen Dingen sprachen. Der Konflikt eskalierte, die beiden brüllten sich am Telefon an – und Kerstin kam ins Coaching.

Scheinbar Selbstverständliches in Frage stellen

Was lernen wir daraus? Ein Gespräch verläuft konstruktiv, wenn wir bereit sind, das, was wir als selbstverständlich erachten, auch in Frage zu stellen. Für die Apothekerin war klar, was ein Rezept ist – war es das aber für den Patienten und seine Betreuerin auch? Eine simple Frage an die andere Person, eine Beobachtung, dass hier vielleicht ein Missverständnis zum Begriff vorliegt – und schon wären die beiden vom Konfliktpfad abgekommen. Ebenso hätte die Diskussion einen konstruktiven Weg genommen, wäre Kerstin bereit gewesen nachzufragen, was denn ihr Gegenüber wirklich brauchte, wie denn ihre Arbeitsrealität aussah!

Daher: Gehen Sie nicht davon aus, dass Ihr Gegenüber dasselbe Vorwissen hat wie Sie. Fragen Sie sich auch einmal, was er oder sie brauchen könnte. Stellen Sie Fragen! Treten Sie einen Schritt zurück, wenn die Emotionen zu brodeln beginnen, und versuchen Sie zu erkennen, was da gerade passiert – in diese Beobachtung können Sie auch die andere Person einbeziehen. Menschen sind vielfältig und niemand ist im Besitz der einzigen Wahrheit. Zu zweit kommt man ihr aber oft näher, wenn man sich wirklich austauscht. Daher: Bleiben Sie neugierig!